Gestern,heute,morgen

Eine der Aufgaben im Studium war es unseren eigenen Roman zu beginnen. Ich hoffe ich schaffe es irgendwann daraus ein richtiges Buch zu machen. Der Titel ist jetzt nur für den Blog gewählt. Viel Spaß beim lesen

Kapitel 1

Venedig, September 2017

Die Sonne schien und der Wind brachte den Geruch von Salz, Fisch und Rauch mit. Eine Gruppe chinesischer Touristen lief fotografierend, hinter einer Reiseführerin mit Regenschirm her. Die Schlange an der St. Marco Kathedrale war lang wie eh und je, und die Venezianer strömten von und auf die Vaporetti. Ein ganz normaler Tag in Venedig. Annie stand am Rand des St. Marco Platzes und blickte auf den Canale Grande. Ihr, inzwischen lang gewachsenes Haar wehte ihr ins Gesicht. Tief atmete sie den Geruch ein.

Seit sie ihre Reise vor 5 Tagen angetreten hatte, fühlte sich Annie leicht. Ihre Sorgen und Ängste, die zerstrittene Familie, all das hatte sie in Deutschland gelassen. Seit ihr Ex- Freund sie verlassen, und aus der Wohnung geworfen hatte, waren die Dinge schlimmer geworden und hatten schließlich in dem Tod ihrer Großmutter Sofia ihren Höhepunkt gefunden. Annie hätte auf der Straße gestanden, hätte ihre Kollegin/ Chefin/ beste Freundin, Bettina, nicht bei sich aufgenommen.

Nur verschwommen erinnerte sich Annie an die Tage danach. Für die Beerdigung hatte Sofia vorgesorgt. Annie hatte lediglich den Bestatter informieren müssen. Formalien mussten erledigt werden. Und dann war da noch das Haus.

Sofia besaß ein kleines, schmuckes Haus außerhalb der Stadt, mit einem kleinen Garten. Annie liebte das Haus und war so oft es ging dort. Sie liebte es auch wenn Sofia ihr Geschichten von der Familie erzählte. Sofia hatte viel zu erzählen, denn die Familie war alt und groß.
„Irgendwann musst du ein Buch über unsere Familie schreiben,“ hatte Sofia oft gemeint und Annie dabei das Gesicht getätschelt. „Du siehst ihr so ähnlich weißt du das eigentlich?“ „Du meinst Katharina?“ fragte Annie.

„Ja. Das arme Ding. Sie hatte es so schwer damals. Ich hab dir doch von ihr erzählt?“ „Ja Omi, das hast du.“ „Ich hab ihre Briefe und ihre Tagebücher vor ein paar Jahren gefunden. Wenn die Zeit reif ist, musst du sie lesen.“

Das hatte Annie getan. Eine ganze Woche lang hatte sie nur gelesen, gegessen und geschlafen.Hatte die Geschichte ihrer Vorfahrin Katharina studiert, ihre Briefe und Tagebücher gewälzt.Mit ihr geweint und gelacht. Und einen folgenschweren Entschluss gefasst. Sie würde die Orte an denen Katharina mit ihrem Mann Christian gelebt und gearbeitet hatte besuchen und deren Geschichte zu einem Buch zusammen fassen. Dann hatte sie ihren Job gekündigt, ihr Konto geplündert und war nach Italien gefahren. Dort, in Venedig, würde sie anfangen.Auch wenn es nicht der Beginn der Geschichte von Katharina und Christian war, zog es sie mit jeder Faser ihres Körpers nach Italien. Paris, London und Antwerpen standen ebenfalls auf der Reiseroute. Und vielleicht würde Annie am Ende der Reisen einen Platz zum Leben finden.

Mit jedem Kilometer der sie von ihrem alten Leben trennte fühlte sich Annie freier und fröhlicher.

Kaum in Venedig angekommen, nahm sie sich eine Unterkunft, lies ihr Gepäck da und machte sich auf den Weg durch die Stadt der Lagunen. Sie ließ sich treiben, ging abseits der Touristenpfade, bis sie eine kleine, alte Kirche erreichte. Nur eine handvoll Bänke standen darin. Kerzen brannten, und ein paar alte Frauen saßen zum stillen Gebet. Nach katholischer Sitte hatten sie sich den Kopf bedeckt. Annie zögerte. Sie wollte nicht stören, und in ihrem Outfit aus Jeans und Kapuzenpullover, nebst Turnschuhen, fühlte sie sich nicht angemessen angezogen. Annie blickte sich genau um, um sich den Ort der Kirche zu merken. Es war eine schmale Gasse, deren Ende am Canale Grande mündete. Rechts von der Kirche standen alte Häuser und links war ein kleines Stück Land, welches Garten und Friedhof zur selben Zeit sein konnte. Annie ging den gleichen Weg zurück und steuerte das erstbeste Geschäft an das sie finden konnte. Dort fragte sie auf englisch und mit Händen und Füßen nach einer Karte und einem Bekleidungsgeschäft. Die Verkäuferin hatte zum Glück noch eine kleine Karte für Touristen und konnte Annie dort die kleine Kapelle markieren und auch ein paar Geschäfte in denen sie Kopftücher und andere Bekleidungen finden konnte. Annie bedankte sich, nahm die Karte und machte sich auf den Weg dorthin. Sie erstand eine langärmelige, weiße Bluse und ein schwarzes Tuch für ihren Kopf. Sie fand auch ein paar elegantere Schuhe, die sie später in der Pension einlaufen würde. Annie tauschte nach dem Bezahlen, in der Umkleidekabine ihren Kapuzenpullover durch die Bluse und ging zurück zu der kleinen Kirche. Dort angekommen legte sie das Tuch über ihre Haare und betrat den Vorraum. Annie atmete tief durch. Kurz hatte sie das Gefühl umzukippen, doch das Gefühl verschwand so schnell wie es gekommen war. Annie zündete eine Kerze an und setzte sich auf die hinterste Bank, darauf bedacht so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Sie schloss die Augen und verspürte einen Moment des Friedens. In Gedanken begrüßte sie ihre Großmutter und erzählte ihr dass sie in Venedig war. Seit ihrem Tod hielt Annie fast täglich ein Zwiegespräch mit Sofia, fragte sie um Rat. Ab und zu hatte sie das Gefühl dass sie eine Antwort bekam. Aber das würde sie nie zugeben. Außer Bettina würde es keiner verstehen und sie als verrückt abstempeln.

Nach einer Weile öffnete Annie die Augen wieder und sah sich in der kleinen Kapelle um. Nur noch eine Frau saß ganz vorne in einer Bank und betete den Rosenkranz. Der Altar bestand aus einem großen Mamorklotz. Darauf standen ein kleines, einfaches Holzkreuz, ein Bild von der Jungfrau Maria und zwei dicke, weiße Kerzen. Annie sprach ein kurzes Gebet und verließ die Kirche wieder. Sie nahm sich vor in den nächsten Tagen zurück zu kommen. Sie wollte herausfinden ob der kleine Garten besuchbar war. Ihr Gefühl sagte ihr dass sie auf der richtigen Spur war. Hier in Venedig hatte Katharina einen schweren Schicksalschlag erlebt, von dem sie sich lange nicht erholen konnte.

In Gedanken versunken wanderte Annie durch die Gassen zurück zu ihrer Pension. Inzwischen war es später Nachmittag und sie bekam Hunger. Ihre letzte Mahlzeit war Stunden her und hatte nur aus einem Sandwich und einem Apfel bestanden.

Ihre Wirtin ,Francesca, begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln, und ein paar deutschen Wörtern und gab ihr die Schlüssel für das kleine Zimmer, welches Annie sich genommen hatte. Es bestand aus einem alten Bett, aber sehr weichem und gemütlichem Bett, einer winzigen Kommode mit einem dicken Röhrenfernseher aus dem letzten Jahrhundert, sowie einer kleinen Nasszelle mit Toilette und Dusche. Es gab allerdings auch einen kleinen Balkon, den Annie durch eine Glastür betreten konnte. Darauf stand ein moderner Gartenstuhl. Ein Sonnensegel aus Baumwolle spendete Schatten und der Blick zeigte entfernt die Türme von St. Marco. Vor dem Fenster wehte eine luftige Gardine und ein Fliegennetz sollte lästige Insekten abwehren. Das Haus in dem die Unterkunft sich befand, war mindestens 300 Jahre alt, manche der Möbel wenig jünger. Ursprünglich war es einer von zahlreichen Palästen. Doch davon war nicht mehr viel zu sehen.Die Räume waren vergrößert worden, offener gestaltet.Viel Holz und Glas war eingesetzt worden. Im Erdgeschoss gab es kaum noch eine Tür, im Wohnbereich gab es einen großen, offenen Kamin, der behagliche Wärme an kalten Tagen versprach, Ihr Zimmer war das letzte Mal in den späten achtziger Jahren renoviert worden.Verblasste Blumen zierten die Tapeten. Doch das war Annie egal. Sie hatte sich spontan in diese charmante Unterkunft und deren Wirtin verliebt. Francesca Torres nahm immer nur ein paar Gäste auf, hatte sie Annie bei ihrer Ankunft verraten. Der einzig andere Gast zu diesem Zeitpunkt, war ein Holländer, den sie aber noch nicht kennengelernt hatte.

In ihrem Zimmer machte Annie ihr Smartphone an und registrierte ein halbes Dutzend verpasster Anrufe, auf der Mailbox hinterlassene Sprachnachrichten und mehrere wütend klingende Kurznachrichten. Die meisten von ihrer Familie, die Annie für verrückt erklärten, dass sie alles hin geschmissen hatte um nach Italien zu fahren. Dafür stand ihr doch schließlich Urlaub zu. Das wäre sicherer gewesen und sie hätte dann immer noch ein Einkommen. Annie löschte die Nachrichten ohne darauf zu antworten. Lediglich Bettina hatte Verständnis für Annie. Ja, sie unterstützte Annie sogar. Sie solle auf ihr Gefühl hören, dass würde sie schon in die richtige Richtung lenken. Das war typisch für Bettina. Im Gegensatz zu ihrer Familie verstand Bettina Annie und deren Konflikte mit der so zerstrittenen Familie. Seufzend schrieb Annie eine Nachricht an ihre Freundin und schaltete das Handy aus. Sie hatte keine Energie um sich mit den Vorwürfen ihrer Familie auseinander zu setzen. Ein Blick auf die italienischen Steckdosen reichte um zu wissen dass sie ihr Ladekabel nicht so ohne weiteres würde anschließen können. Aber das konnte noch warten. Erst einmal würde sie duschen. Sie schnappte sich ihren Kulturbeutel und schlüpfte ins Bad. Aus dem Duschkopf kam erstaunlicherweise warmes Wasser, dass dann schnell heiß wurde. Annie drehte eine Weile an den Wasserhähnen herum, bis sie eine angenehme Temperatur gefunden hatte. Dann spülte sie sich die Lasten der vergangenen Wochen vom Körper. Nach der Dusche trocknete sie sich ab und zog sich ein blaues, knielanges Kleid an. Dazu nahm sie eine weiße Strickjacke und weiße Ballerinas. Das Haar band sie sich zu einem Zopf zusammen. Sie nahm ihren Schlüssel und ihre Handtasche und ging hinunter. Durch die Eingangshalle ging sie in den hinteren Teil des Hauses, der zu einem Hinterhof führte. Dort stand ein gedeckter, schmiedeeisener Tisch, groß genug für ein Dutzend Leute. Gedeckt war er für drei Personen. Laternen brannten und in der Luft lag der Duft von Zitronen, Lavendel,und vielen anderen Blumen und frischen Kräutern. Francescas kleiner Hinterhof war ein Paradies für sich.

„Es ist wirklich zauberhaft hier. Finden Sie nicht auch?“ Annie drehte sich um. Hinter ihr stand der holländische Gast. Er trug blaue Jeans, dazu ein weißes Hemd und Turnschuhe. Annie musste zu ihm aufblicken, denn er war mindestens einen Kopf größer, mit braunen Haaren und braunen Augen. Er lächelte Annie an und zeigte dabei Grübchen in den Wangen.„Ich heiße John de Vries. Und Sie sind?“ Er sah fragend zu Annie. „Faber. Äh Annie. Annie Faber“, stotterte sie verwirrt. „Freut mich Sie kennenzulernen Frau Faber, Annie.“ Immer noch sprachlos schüttelte Annie die ihr angebotene Hand, während sie ihn anstarrte. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie war sich nur zu bewusst dass sie ein paar Kilos zu viel auf den Rippen hatte. In diesem Moment bereute sie kurz nach Venedig gekommen zu sein. Aber nur kurz. Dieser milde Abend, mit klarer Luft und dem Zirpen von Grillen war zu schön um etwas zu bereuen. Halb von ihm abgewandt musterte Annie den holländischen Gast. „Es ist ein schöner Abend. Finden Sie nicht auch?“ versuchte John Annie aus der Reserve zu locken. „Ja. Es ist wirklich schön hier. Ein Stück Paradies auf Erden.“ Annie lächelte schüchtern John an.In diesem Moment kam Francesca mit einem Tablett voller Essen. Annie trat zum Tisch um ihr zu helfen. Ein paar Minuten standen frische Oliven, Tomaten. Brot, Pasta und andere Köstlichkeiten, dazu gab es Rotwein. John zündete die Kerzen an und rückte den beiden Frauen die Stühle zurecht bevor er selbst Platz nahm. „Bitte greift zu.“ Francesca reichte den ersten Teller. Annie und John bedienten sich. John flirtete mit Francesca, lobte ihr gutes Essen. Schmunzelnd bedankte sich Francesca. Allmählich entspannte sich Annie. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, sie unterhielt sich mit John, lachte mit Francesca, und vergaß ihre Sorgen, je später der Abend wurde. Sie unterhielten sich über die alten Zeiten, in denen die Medicis Venedig regierten, der Dogenpalast noch voller Leben war, und pompöse Bälle den Adel beschäftigten. Francesca erzählte von ihrer Familie und ihren Berühmtheiten. Dann erzählte John von seiner ebenfalls alten Familie. Von Händlern und Piraten. So manches Mal lachten die drei lauthals los. Doch ein oder zweimal bildete Annie sich ein dunkle Schatten über Johns Gesicht huschen zu sehen. Nach ein paar Sekunden war jedoch nichts davon zu sehen. Und da John vergnügt zu sein schien war sich Annie nicht sicher ob nicht das Abendlicht ihr einen Streich gespielt hatte. Satt und zufrieden lehnte sich Annie schließlich zurück. Lange hatte sie sich nicht mehr so gut amüsiert. „Francesca das war das beste Essen was ich seit langem gegessen habe“, seufzte Annie zufrieden. Francesca lachte und begann den Tisch abzuräumen. „Warten Sie bis sie den Nachtisch probiert haben“, lachte Francesca vergnügt über das Kompliment. Dann brachte sie die Teller in die Küche. So hatten John und Annie einen Augenblick für sich. Sie blickten einander in die Augen bis Annie meinte ihr Herz würde so laut klopfen dass man es bis zum Canale Grande hören würde. Sie räusperte sich, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sonst war Annie nicht so um Worte verlegen. Aber dieser Abend in Venedig, in diesem Garten, mit John verschlug ihr die Sprache. Es lag ein Hauch von Magie und Liebe in der Luft, das konnte sie deutlich spüren. Etwas an John sprach sie an und sie überlegte ob er ein Teil der Geschichte, deretwegen sie hierher gekommen war oder ob er es werden würde. Noch während sie darüber nachdachte, hörte sie Schritte.

Zum Nachtisch hatte Francesca Espresso und eine wundervolle, leichte Zitronencreme serviert. „Aus eigenem Anbau“, erklärte sie und wies mit dem Kopf auf eine Ecke des Gartens in dem Zitronenbäume wuchsen.Sie verteilte die Zitronencreme auf die Teller und stellte den Espresso dazu. John nahm einen Löffel und schloss genießerisch die Augen, „Es schmeckt himmlisch. So eine leichte Creme habe ich noch nie in meinem Leben gegessen. Kommen Sie Annie, Sie müssen diese Creme unbedingt essen.“ Annie lachte, und probierte dann einen Löffel von ihrer Portion. „Es schmeckt wirklich himmlisch Francesca. Wie haben Sie die nur gezaubert?“„Es ist ein altes Familienrezept. Seit Generationen wird es von der Mutter an die Tochter weiter vererbt. Es wird mündlich überliefert. Der Legende nach liegt eine schriftliche Variante in einem geheimen Bankschließfach. Aber das halte ich für ein Gerücht. Viele haben schon versucht es mir abzukaufen.Ein reicher Scheich hat mir ein Vermögen dafür angeboten. Aber es bleibt in der Familie. Meine älteste Nichte wird es später einmal erben.“ Mit den letzten Tellern in der Hand ging Francesca ins Haus.

Annie blickte ihr nachdenklich hinterher. Sie hatte kein gutes Verhältnis zu ihren Nichten. Was auch daran lag dass sie kein gutes Verhältnis zu ihrer Schwester hatte. Ihre erfolgreiche, verheiratete, große Schwester Amanda. Die Annie immer hat spüren lassen, wie erfolgreich sie doch war. Zu jeder sich bietenden Gelegenheit hielt sie Annie vor wie gut die Kanzlei lief, die sie zusammen mit ihrem Mann führte. Und was für gute Noten die Kinder in der Schule bekamen. Inwieweit sie das wirklich war, vermochte Annie nicht zu sagen. Amanda verstand es ihre Gefühle zu kontrollieren. Nicht der kleinste Riss in der Fassade war zu erkennen. Im Gegensatz zu Annie. ´Dramaqueen´wurde sie von ihrer Familie oft genannt, wenn ihr Temperament mit ihr durch ging und sie rot vor Zorn aus dem Zimmer stürmte. ‚Du sagst immer was du denkst, ohne darüber nachzudenken. Und ohne dir die Konsequenzen bewusst zu machen. Manchmal ist es besser zu schweigen.‘ hatte ihre Mutter erst vor ein paar Monaten im Streit zu ihr gesagt. Annie stritt sich oft mit ihrer Familie. Nichts konnte sie ihnen Recht machen. Sie war nicht erfolgreich genug, hatte noch keine Kinder, und der Mann war ihr davon gelaufen. Annie konnte noch so oft erklären dass sie verlassen worden war. Niemand außer ihrer Großmutter hatte ihr zugehört. Vor allem ihre Mutter Erika hielt ihr gerne vor dass ihre biologische Uhr mit jedem Tag lauter tickte. Sie wolle schließlich noch mehr Enkelkinder. Und überhaupt sollte Annie mehr aus sich machen. Ein paar Kilos abnehmen. So endete jedes Gespräch mit der Mutter im Streit. Auch ihr Vater Günther war da keine Hilfe. Seit der Trennung von Erika kümmerte er sich mehr um seine Baufirma und seine neue, junge Ehefrau.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Erschrocken zuckte Annie zusammen. Sie war so in Gedanken dass sie John ganz vergessen hatte. „Wie? Oh. Ja. Alles in Ordnung. Danke.“ Sie sah das John sie nachdenklich betrachtete. „Wirklich?“ „Ja. Ich hab nur nachgedacht. Wie kompliziert Familie sein kann. Wie einfacher es doch wäre wenn nicht jeder den anderen nur im Negativen kritisiert. Ein nettes Wort hier und da ist auch nicht verkehrt. Aber ich rede wieder zu viel. Entschuldigen Sie mich bitte. Einen schönen Abend noch.“ Hastig verließ Annie den Innenhof, obwohl sie lieber noch etwas Zeit mit John verbracht hätte. Doch sie war zu aufgewühlt. Er verwirrte sie mit seiner Attraktivität und dem hinreißenden Akzent, mit dem er sprach. Und sie hatte keine Lust mit ihm über die Ursachen ihrer Probleme zu reden. Nachher hielt er sie auch noch für eine Dramaqueen oder schlimmeres. Es war besser sich von ihm fernzuhalten. Zumal er garantiert auch liiert war. Sie wollte sich und ihm die Peinlichkeit ersparen, einen Korb zu bekommen. Das er mit Francesca geflirtet hatte, war bestimmt nur Höflichkeit gewesen.

Auf dem Weg zu ihrem Zimmer blieb Annie unschlüssig stehen. Sie war noch nicht müde genug um zu schlafen, und es war auch eigentlich zu früh dazu. Kurz entschlossen ging sie Richtung Küche, um Francesca Bescheid zu sagen, dass sie noch einen kleinen Spaziergang machen würde. Diese wünschte ihr viel Spaß und empfahl ihr noch eine Bar in der Nähe. Schnell nahm Annie ihre Handtasche, darauf bedacht John nicht in die Arme zu laufen. Dann huschte sie aus dem Haus und ging links herum auf dem Weg in die Nacht. Sie vermied die kleinen Gassen, hielt sich auf den Hauptwegen. Touristen und Einheimische waren unterwegs, entweder um in eine der vielen Bars zu gehen, oder um sich unter freiem Himmel zu treffen und dort zu feiern. Annie entschied sich dafür in die Bar zu gehen, die Francesca ihr empfohlen hatte. Dort würde noch bis in die späte Nacht hinein Musik gespielt und getanzt werden. Nach tanzen war ihr nicht zu Mute, aber sie hoffte insgeheim das John ihr folgen würde. Irgendwas an diesem Mann sprach sie an. Sie wollte ihn näher kennenlernen. Gleichzeitig hatte sie aber auch Angst davor. Die Trennung steckte ihr noch in den Knochen, und sie wollte nicht wieder zurückgewiesen oder für verrückt erklärt werden.

John stand an die Terrassentür gelehnt, ein Glas Wein in der Hand, und beobachtete Annie wie sie das Haus verließ. ‚Sie läuft vor irgendwas oder irgendwem davon‘, dachte er. ‚Genau wie ich.‘ Er betrachtete sein Hand an dem seit einer Weile der Ring fehlte. Annie gefiel ihm. Er war sich sicher dass er ihr auch gefiel. ‚Ich bin noch nicht so weit‘ Er leerte sein Glas und brachte es in die Küche. Francesca war nicht zu sehen, also wusch er es ab, nahm sich ein Handtuch, und stellte das trockene Glas auf den Tisch. Dann ging er in Richtung Rezeption und hinterließ Francesca eine Nachricht dass er noch spazieren sei. Vor dem Haus atmete er tief durch, blickte hoch zu den Sternen und ging in die Nacht. Er wusste wo Annie hin wollte, ging aber bewusst in eine andere Richtung um ihnen beiden Zeit zu geben. Er hatte sich geschworen nie wieder eine andere Frau so zu lieben, wie er seine verstorbene Frau zu lieben. Bis zu ihrem letztem Atemzug hatte er sie gepflegt und dann ihre Hand gehalten, als sie ihren letzten Atemzug tat. Ein Jahr war das nun her und er trauerte immer noch um sie. Obwohl er seinen Ehering schon eine Weile nicht mehr trug. ‚Nein‘, dachte er. ‚Ich erledige hier meine Geschäfte und fahre zurück nach Amsterdam. Ich bin nicht der Richtige für Annie.‘ John ging zurück zur Pension und in sein Zimmer. Francesca sah ihn ankommen und schüttelte mit dem Kopf. Sie spürte das John und Annie für einander geschaffen waren. Aber es sah nicht so aus als würden die beiden zusammen finden. „Was die zwei brauchen ist ein Wunder“, murmelte sie und ging in das Wohnzimmer. Sie schenkte sich einen Grappa ein und nahm sich ein Buch. Sie würde auf Annie warten, um sicher zu sein, dass sie auch wohlbehalten wieder in der Pension ankommen würde. Auch Venedig war ein riskantes Pflaster für unbedarfte Frauen.

Derweil saß Annie in der Bar und lauschte der Musik. Wenn auch nur mit halbem Ohr. Immer wieder schielte sie auf die Tür, in der Hoffnung, dass John noch kommen würde. Doch je später es wurde, desto sicherer war sie dass er es nicht tat. Annie wurde allmählich wütend auf sich selbst, dass sie tatsächlich geglaubt hatte John würde sich was aus ihr machen. Sie winkte der Bedienung zu und bestellte sich einen doppelten Whiskey. Sie kippte den Whiskey runter, würgte und hustete, weil sie so starken Alkohol nicht gewohnt war. Die Leute um sie lachten als sie das mitbekamen. Mit hochrotem Kopf bezahlte Annie und stürmte wütend aus der Bar. Sie schwor sich nie wieder einen Fuß in diese blöde bar, mit diesen blöden Leuten zu setzen, die sich über sich lustig machten. Ein bisschen betrunken machte sich Annie auf den Weg in die Pension. Ohne ein Wort mit Francesca zu wechseln torkelte sie die Treppe hoch in ihr Zimmer, warf die Tür zu und kippte in ihren Klamotten auf ihr Bett. Ohne sich die Mühe zu machen sich auszuziehen, oder Zähne zu putzen schlief Annie ein.

8 Kommentare

  1. Was für ein schöner Beginn der Geschichte, ich hoffe sehr, du schreibst sie weiter! Du malst Bilder im Kopf, ich höre Musik und Wind in Blättern, ganz toll.
    ❤️?

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